Klassizismus: Malerei und Bildhauerei - »Edle Einfalt, stille Größe«

Klassizismus: Malerei und Bildhauerei - »Edle Einfalt, stille Größe«
Klassizismus: Malerei und Bildhauerei - »Edle Einfalt, stille Größe«
 
Der Klassizismus römisch-französischer Prägung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der letzte einheitliche Stil der europäischen Kunstgeschichte. Er hinterließ seine Spuren von Italien bis nach Skandinavien, von Spanien bis nach Russland und sogar in Nordamerika. Genau genommen war er eine alle Kunstgattungen umfassende Lebensanschauung, die sich gleichermaßen in der Malerei von Jacques-Louis David und seinen zahlreichen Schülern, in der Bildhauerei von Antonio Canova oder Bertel Thorvaldsen, in der Architektur von Jacques-Germain Soufflot und Claude-Nicolas Ledoux, in den Inneneinrichtungen von Robert Adam, in den Möbeln von Jean-Henri Riesener oder David Roentgen, im Sèvres-Porzellan und in der Wedgwood-Keramik, in der Kleidung und im Verhalten der Menschen äußerte, die sich mit diesen Dingen umgaben.
 
Der Klassizismus war der gültige Ausdruck einer ganzen Epoche, nämlich der Übergangszeit von einer absolutistisch-aristokratischen zu einer aufgeklärt-bürgerlichen Gesellschaft. So reichhaltig seine künstlerische Produktion war, so vielschichtig waren auch die Gründe für seine Entstehung. Allein mit den ästhetischen Schriften einiger Theoretiker der Aufklärung - etwa Johann Georg Sulzer oder Johann Joachim Winckelmann - oder den Funden, die man bei den ersten Ausgrabungen in den verschütteten Vesuvstädten Pompeji und Herculaneum entdeckte, lässt sich das Phänomen jedenfalls nicht begründen.
 
Dass man die Kunst einer vergangenen Epoche zum »klassischen« - das heißt mustergültigen - Wert erhob, geschah im Lauf der europäischen Kunstgeschichte mehrfach, zuletzt eben in den Jahrzehnten vor 1800. Vorbilder konnten aber nicht nur die Formen der Antike sein. So griff man beispielsweise in der venezianischen Dekorationsmalerei um die Mitte des 18. Jahrhunderts auf die Kunst des 16. Jahrhunderts zurück, die zum »goldenen Zeitalter« verklärt wurde; zur gleichen Zeit bezog sich der in Rom lebende Deutsche Anton Raphael Mengs in seinen Fresken nicht weniger deutlich auf die Kunst Raffaels. In Frankreich, das als Zentrum des Klassizismus gilt, sah man dagegen zunächst auf die Normen des eigenen 17. Jahrhunderts, also besonders auf die Malerei Nicolas Poussins. An dessen formstrengen, von der Kunst Roms inspirierten Gemälden mit hohem ethischem Anspruch orientierten sich in der frühen Phase des Klassizismus mehrere Maler.
 
Unter ihnen profilierte sich besonders Jacques-Louis David. Noch in der Malweise eines François Boucher in Paris ausgebildet, überwand David um 1780 das Rokoko während eines längeren Studienaufenthalts in Rom. Sein Historiengemälde »Der Schwur der Horatier«gilt als Schlüsselwerk des Klassizismus. Ähnlich düstere Szenen mit scharf beleuchteten Figuren auf einer Raumbühne geringer Tiefe, denen oft ein dramatischer Konflikt zwischen familiärer und patriotischer Pflichterfüllung zugrunde lag, boten keine bloße Illustration makabrer historischer Ereignisse, etwa aus der römischen Geschichte. Sie sollten den Zeitgenossen vielmehr als herausragende und die Nachwelt verpflichtende Beispiele vor Augen gestellt werden, die an ihre eigenen Bürgertugenden appellierten. David spitzte seine Kompositionen auf ihren rigorosen ethischen Gehalt zu und fand dafür eine angemessene, nicht weniger rigorose Bildsprache. Berief er sich hierbei auch auf die französischen Klassiker des 17. Jahrhunderts, darf doch der erhebliche Naturalismus seiner Kunst nicht unterschätzt werden, der diesen Gemälden erst ihre geradezu hautnahe Eindringlichkeit verleiht.
 
Der italienische Bildhauer Antonio Canova durchlief annähernd gleichzeitig eine ähnliche Entwicklung. Er wurde zunächst in Venedig in der Tradition des Rokoko ausgebildet und wandelte sich erst nach 1780 in Rom zum Hauptmeister des Klassizismus. Obwohl auch ihm die reichhaltige Kunst dieser Stadt als Katalysator diente, waren seine Vorbilder eher die Skulpturen der Antike aus den zahlreichen römischen Sammlungen. Auch wenn seine mehrfigurigen Kompositionen - etwa die Papstgrabmäler - im Typus den großen barocken Vorbildern Gian Lorenzo Berninis verpflichtet sind, bevorzugte Canova - im bewussten Gegensatz zu Berninis vielfarbigen Kompositionen - die Strenge des weißen, wenn auch delikat modellierten Marmors; damit konzentrierte er sich auf eine kompromisslose, idealistische Reinheit, wie er sie in den antiken Werken bereits verwirklicht sah.
 
Durch ihre vordergründig kaum wahrnehmbare, enge Bindung an das Zeitgeschehen begleitete und kommentierte die Kunst des Klassizismus das aristokratische Ancien Régime, aber auch die verschiedenen Phasen der Französischen Revolution, das Konsulat und Kaiserreich Napoleons I. und selbst noch die auf dessen Sturz folgende Restauration. Davids Darstellung der Sabinerinnen, die zwischen die zum Kampf angetretenen Sabiner und Römer treten und den Konflikt beenden, lässt sich als Versöhnungsangebot an die während der revolutionären Terrorherrschaft ins Exil geflüchteten Franzosen verstehen. Ebenso kann die Skulptur Canovas, die den Kampf zwischen dem griechischen Helden Theseus und einem Kentauren zeigt, als Anspielung auf Napoleons Siege verstanden werden; die relative Unverbindlichkeit des mythologischen Themas ermöglichte nach dessen Sturz aber genauso gut eine gegensätzliche Deutung.
 
Nur Gemälde, die sich unmittelbar auf Ereignisse der Revolution oder auf Schlachten Napoleons bezogen und diese zu modernen Heldenepen verklärten, eröffneten keinen solchen interpretatorischen Spielraum. Zugleich entfalteten sie meist eine reichere Formensprache als die eher kargen Gemälde des frühen Klassizismus. Die Figuren des Bildhauers Bertel Thorvaldsen, die oft die gleichen Themen der griechischen Mythologie darstellen wie die Arbeiten Canovas, neigen allerdings zu einer weit abstrakteren Formensprache und zu stärkerer Glättung malerischer Effekte. Thorvaldsens Werke können daher kaum noch mit antiken Vorbildern in Verbindung gebracht werden. In ähnlicher Weise zeigt auch die Malerei von Jean Auguste Dominique Ingres in der Vernachlässigung des Naturalismus und in der Hinwendung zu Vorbildern der italienischen Renaissance eine deutliche Abkehr von den Normen seines Lehrers David.
 
Prof. Dr. Matthias Bleyl
 
 
Einem, Herbert von: Deutsche Malerei des Klassizismus und der Romantik. 1760—1840. München 1978.
 
Europäische Kunst im 19. Jahrhundert, Band 1: Vaughan, William: 1780—1850. Vom Klassizismus zum Biedermeier.Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1990—91.
 Hofmann, Werner: Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830. München 1995.
 Lankheit, Klaus: Revolution und Restauration. 1785—1855. Neuausgabe Köln 1988.
 Middleton, Robin und Watkin, David: Klassizismus und Historismus. 2 Bände. Stuttgart 1987.

Universal-Lexikon. 2012.

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